Multitalent Darm- und die Bauchintelligenz: Die Macht des zweiten Gehirns
Die Nervenzellen im Verdauungstrakt sprechen die gleiche Sprache wie ihre Verwandten im Gehirn. Sie reagieren beispielsweise auch auf das Glückshormon Serotonin oder auf den Stress-Botenstoff Adrenalin. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl so genannter Neurotransmitter, das sind spezielle Signalmoleküle, mit denen sich Neurone untereinander verständigen. So kontrolliert das Bauchhirn die Aktivität des Verdauungstraktes.
Dazu verarbeitet es ständig eine Fülle von Informationen aus dem gesamten Darm: Spezielle Sensoren in der Darmwand etwa geben Auskunft über Füllungszustand und Zusammensetzung des Speisebreis. Das ermöglicht dem Nervengeflecht, bedarfsgerecht zu steuern, wie schnell die Nahrung den Darm durchwandert und wie viele Verdauungssäfte Pankreas und Galle produzieren. Das Darmhirn herrscht weit gehend allein über den Verdauungstrakt. „Wenn das Gehirn all diese Prozesse zentral steuern würde, bräuchten wir einen sehr dicken Hals, um all die Nervenleitungen unterzubringen“, erklärt der Biologe Schemann, der seit 1986 das Darmhirn erforscht. „Der Darm ist einfach zu wichtig, als dass er zentral gesteuert werden könnte.“Darm- und Bauchhirn stehen dennoch in einem ständigen Kontakt. So erhält der Darm Signale über die „Großwetterlage“ im Körper. Stress beispielsweise entspannt die Darmmuskeln und lähmt die Verdauung, Entspannung dagegen aktiviert sie. Angstdurchfall, etwa vor einer Prüfung, entsteht vermutlich, weil Stress auf die Abwehrzellen im Darm wirkt und als Folge das Bauchhirn aktiviert wird. „Dadurch erhöhen sich Sekretion und Bewegung im Darm“, erläutert Darmhirn-Forscher Michael Schemann.
Zusammenspiel von Bauchhirn und Kopf
Umgekehrt gibt das Darmhirn reichlich Feedback ans Gehirn: 90 Prozent der Nervenverbindungen zwischen Darmhirn und Kopf verlaufen von unten nach oben. „Das Gehirn ist wie ein Monitor ständig über den Zustand im Darm informiert“, erklärt Michael Schemann.
Die meisten Mitteilungen bleiben jedoch unbewusst, wir nehmen meist nur Notsignale wie Übelkeit, Erbrechen oder Schmerzen wahr. Unwichtiges „überhört“ das Gehirn gesunder Menschen – ähnlich, wie es gleich nach dem Anziehen die Meldungen darüber ignoriert, dass Hemd, Hose und Pullover auf der Haut aufliegen. „Wir spüren unseren Darm nur, wenn er Ärger macht“, erklärt der Tübinger Darm-Experte Paul Enck. Alle übrigen Meldungen werden ausgeblendet. „Das ist auch gut so, denn würden wir alle Informationen von 100 Millionen Nervenzellen im Verdauungstrakt ständig wahrnehmen, hätten wir nichts anderes mehr zu tun.“